Gregor Sambs ist unsichtbar geworden -- und das buchstäblich: Er wird von seinen Mitmenschen einfach nicht mehr wahrgenommen. Nehmen sie damit Rache an dem preisgekrönten Lyriker, den sie einst euphorisch feierten und nun, da sein Leben einen Bach aus Alkohol hinunterging, mit völliger Nichtbeachtung strafen? Entzieht sich hier ein weltfremder Träumer der Wirklichkeit? Fragen, die wohl nie auftauchen hätten können, wenn es nicht die allgegenwärtigen Fernseh-Talkshows gäbe, denen kein Schicksal bizarr genug sein kann, um damit die dumpfe Neugier des Publikums zu bedienen... So wird sogar der unsichtbare Sambs zur Sensation und landet als Quotenbringer in der "Bärbl-Käfer-Show", wo er endlich sein intimes Geständnis ablegen kann: Von nicht eingelösten Glücksversprechen der Kindheit, von zunehmender Entfremdung, von Punkmusik, Alkohol, dem ruhmreichen Aufstieg als Lyriker und schließlich seinem Verschwinden spricht Sambs. Und die voyeuristische Erregung des Fernsehpublikums an seinem tragischen Schicksal, seiner Selbstentblößung findet noch in der des Lesers ein Echo, denn Kislinger lässt kaum Zweifel offen, dass er in seiner Romanfigur vor allem auch sich selbst darstellt.

Der in der "Stahlstadt" Linz lebende Autor Harald Kislinger war 1992 meisturaufgeführter deutschsprachiger Dramatiker und wurde 1995 mit dem Else-Lasker-Schüler-Preis ausgezeichnet. Diese und andere biografische Daten ähneln denen des Lyrikers Sambs, der Hauptfigur von diesem Romandebüt Kislingers. Das von sprachlichen Rhythmuswechseln begleitete Schwanken zwischen Satire, wütender Selbstentäußerung und poetischer Reflexion macht Sambs' Erscheinen zu einem vielschichtigen Lektüreerlebnis. "Mein Leben ist ein Fall -- und ist Satire möglich, wo die Schmerzen überwiegen?", heißt es in einer der vielen regelrecht skandierbaren Passagen.

Natürlich ist Sambs' Erscheinen auch eine Hommage an Kafka und seine berühmte Erzählung Die Verwandlung. Was den eines Morgens als Käfer aufwachenden Gregor Samsa und den unsichtbaren Gregor Sambs verbindet: Beide reagieren auf ihre unerträgliche soziale Situation. Und beide sind auch als Selbstbildnisse des jeweiligen Autors lesbar. --Mathis Zojer